Der Tauchermeister

Günter war Taucher, ja, sogar der beste Taucher an der ganzen Ostseeküste.
Wenn irgendwo ein Wrack untersucht oder gehoben werden
sollte, musste er dabei sein. Eigentlich hieß er Günter Groß, aber alle nannten ihn „Günter Grund", weil er sich auf dem Meeresgrund auskannte wie kein anderer. Mit ihm fuhren seine Kollegen Sönke und Hauke. Auf die konnte er sich fest verlassen. Das ist sehr wichtig
für einen Taucher, schließlich hängt sein Leben davon ab, wie die beiden ihn sichern und versorgen, wenn er unter Wasser arbeitet. Die drei waren unterwegs, um ein Wrack aus der Wikingerzeit für die Bergung vorzubereiten.
Die Sonne schien auf das Schiff, es wehte kein Wind, das Wasser bewegte sich nur leicht.
Das Schiff der Wracktaucher Günter sagte: „Die See ist glatt wie ein Ententeich. Lasst uns das schöne Wetter genießen, Männer. Sönke, mach den Motor aus, der Lärm stört!"
Sie erfreuten sich an der friedlichen Stimmung an Deck.
„Ich höre etwas", flüsterte Günter nach einer Weile, „hört ihr es auch?"
„Ja, jetzt, wo du es sagst. Es klingt wie zarte Stimmen", entgegnete Hauke leise.
„Hier ist doch niemand außer uns. Nicht mal Vögel sind hier und auf dem Schiff ist alles still", rätselte Sönke.
„Ich glaub', ich höre die Engel singen."

Tauchermeister lauscht

„Seltsam, wo kann das nur herkommen?"
Aufmerksam gingen die Männer auf dem Deck umher. Es klang, als würde der Gesang aus dem Wasser kommen.
„Das will ich jetzt aber wissen. Männer, lasst den Anker fallen, ich werde tauchen!", sagte Günter fest entschlossen.
Es spritzte gewaltig, als der schwere Anker mit der dicken Kette ins Wasser fiel. Luftblasen sprudelten, so dass zunächst von dem Gesang nichts mehr zu hören war. Die Männer halfen Günter dabei, den Taucheranzug anzuziehen und den schweren Taucherhelm aufzusetzen.


Sönke und Hauke helfen Günter seinen Taucheranzug anzuziehen Endlich war es soweit, Günter Grund stieg ins Wasser. Langsam glitt er an der Ankerkette hinab. Noch immer konnte er wegen der blubbernden
Luftblasen nichts hören. Da der Anker den Meeresboden aufgewirbelt
hatte, konnte er auch nicht gut sehen. Erst als der Schlick sich langsam setzte, wurde das Wasser wieder klar.
Er traute seinen Augen nicht. Der Anker war mitten auf dem Marktplatz
einer Unterwasserstadt gelandet. Rings um den Platz herum standen alte Häuser, an der einen Seite eine Kirche. Straßen liefen aus allen Richtungen auf den Marktplatz zu. Er hörte jetzt auch Stimmen,
sie wurden immer lauter. Zu sehen war aber niemand, nur viele Quallen schwammen um ihn herum.
„Bist du verrückt, deinen Anker auf unseren Markt zu werfen?", wurde er nun direkt angesprochen. Aber von wem?
„Der hätte ja leicht auch ein Haus oder gar die Kirche treffen können!"
Nicht mal Fische waren hier zu sehen und Menschen schon gar nicht. Merkwürdig. Sollten etwa die Quallen mit ihm reden? Ja, so war es wohl.

Günter sieht die versunkene Stadt Jumme

Als viele Quallen zu ihm hinschwammen und aufgeregt herumwedelten,
erkannte er es: die Quallen sprachen!
„Wir leben hier und ihr werft euren Anker einfach auf uns. Was haben wir euch denn getan?"
„Ich ... ich ... ich wusste doch gar nichts von euch", stammelte Günter Grund.
„Wir haben auf unserem Schiff einen Gesang gehört, wussten aber nicht wo der herkam. Da wollte ich mal nachsehen. Habt ihr so schön gesungen?"
„Natürlich haben wir gesungen, wer denn sonst?", entgegnete die Qualle, die nun das Wort führte.
„Könnt ihr denn für mich noch einmal singen? Ich würde den Gesang gerne aus der Nähe hören. So wie ihr singt, so stellen wir uns den Gesang der Engel vor."
„Ja, am Sonntag singen wir wieder in der Kirche. Dann darfst du zuhören und wenn die Glocken läuten, gehörst du zu uns. Ich heiße übrigens Medusa, ich bin die Älteste hier."
Mit ihren langen Fäden zeigte sie herum: „Und das sind meine Töchter
Aurelia, Aurita, Tjara, Finja und Kaya".


Günter spricht mit den Quallen Rings um Günter herum bewegten sich so viele Quallen, dass er nicht erkennen konnte, wen sie genau meinte. „Warum könnt ihr sprechen und singen und was ist das für eine Welt hier?", wollte Günter wissen. Aber da zogen seine Kollegen auf dem Schiff an der Leine. Das war das Zeichen für Günter, dass er auftauchen musste. Die Tauchzeit war um und er wurde auf das Schiff geholt. Auch der beste Taucher der Welt muss nach einer Stunde wieder auftauchen.

Oben an Deck angekommen, erzählte er Sönke und Hauke, was er gesehen und gehört hatte. Sie lachten laut und klatschten sich vergnügt
auf ihre Schenkel. Günter war nämlich nicht nur der beste Taucher der Ostseeküste, sondern auch der beste Geschichtenerzähler
der Welt. Sie nannten ihn deshalb auch manchmal „Günter Grusel".
Das war nicht böse gemeint, schließlich hörten sie ihm gerne zu, wenn er an den langen Abenden auf See sein Seemannsgarn spann. Manchmal erzählte er von Gesprächen mit einer Ratte oder von Abenteuern
mit einem Butt. Geglaubt haben sie ihm das nie. Jetzt wollte er also mit Quallen in einer Unterwasserstadt geredet haben. Spannend,
fast so fesselnd wie seine Geschichte von dem Jungen, der nicht mehr wachsen wollte und Glas zersingen konnte.
„Günter, lass uns weiterfahren!", forderte Sönke ihn auf. „Abends erzählst du uns dann von deinen neuen Freunden."
Hauke machte sich an die Arbeit, den Motor zu starten.
„Blomm!", machte es und dann „Rö - rö - rö - blorrrr!"
Danach war es still auf dem Schiff. Er versuchte es noch mehrmals, aber leider vergebens.
„Dann bleiben wir eben hier vor Anker liegen", entschied Günter. „Morgen repariert ihr den Motor und ich tauche noch einmal in die Quallenwelt hinab."
Am nächsten Morgen tauchte Günter wieder zum Meeresgrund. Und wieder kamen die vielen Quallen zu ihm. Voran schwamm Medusa, er erkannte sie sofort. Die Quallen waren heute viel ruhiger und nicht mehr so aufgeregt wie gestern. Jetzt fiel ihm auf, wie elegant ihre Bewegungen waren. Sie schwebten durch das Wasser, als hätten sie kein Gewicht. Fast durchsichtig glitten sie an ihm vorbei. Er war Zuschauer eines gespenstisch schönen Unterwasserballetts.

Schwimmende Quallen


„Die Stadt heißt Jumme", begann Medusa zu erzählen, „vor vielen, vielen Jahren lebten in ihr Menschen. Die waren sehr reich, denn sie handelten mit Waren aus der ganzen Welt. Mit der Zeit wurden sie gierig und wollten immer mehr Reichtum, nichts anderes mehr. Nur noch Geld, Geld, Geld. Sie vergaßen die Rücksicht aufeinander, die Sorge füreinander und die Liebe zueinander. Da trat an einem Sonntag das Meer über das Ufer und überspülte den ganzen Ort. Mit einer einzigen riesigen Welle war Jumme verschwunden. Alle Menschen wurden zu Quallen. Niemand auf der ganzen Welt weiß, wo Jumme geblieben war. Bis heute hat es niemand herausgefunden. Jetzt hast du uns entdeckt. Beinahe hättest du mit deinem Anker viel zerstört, aber zum Glück ist es noch einmal gut gegangen. In jedem Jahr im August kommen wir zurück zu der Stadt unserer Vorfahren. Wir erzählen uns die alten Geschichten und singen in der Kirche die Lieder, die sie sangen, als die große Flutwelle kam. Morgen kannst du zuhören und wenn dann die Glocken läuten, gehörst du zu uns." Die Stunde war um, Günter Grund wurde nach oben gezogen. Ausführlich erzählte er von der versunkenen Stadt. Aber erneut glaubten ihm Sönke und Hauke seine Geschichte nicht. Leider war es ihnen immer noch nicht gelungen, den Motor in Gang zu setzen. Günter freute das, denn nun konnte er noch einmal hinab zu den Quallen und den Engelsgesang in der Kirche von Jumme hören. Was hatten sie wohl gemeint, als sie sagten: „Wenn die Glocken läuten, gehörst du zu uns?"
Er war sehr gespannt darauf.
„Heute müssen wir den Knatterkasten aber wieder zum Leben erwecken",
mahnte Sönke am Sonntag, „es wird langsam Zeit, dass wir zu unserem Wikinger-Wrack kommen."
Günter tauchte abermals. Nun war er schon ein wenig vertraut mit der Unterwasserwelt. Die eleganten Quallen schwebten ohne Scheu um ihn herum. Sie begleiteten ihn in die Kirche. Einen Augenblick später hörte er tatsächlich die Musik, die er für Engelsgesang gehalten
hatte. Er rührte sich nicht und lauschte diesem einmalig schönen Klang.


Günter hört die Glocken in der Kirche von Jumme läuten „Misere ..." sangen sie und „secundum ...", lauter Wörter oder Silben, die er nicht verstand. Das war ihm völlig unwichtig, weil die Musik einzigartig war.
Sönke und Hauke konnten diesmal nichts davon hören, denn nachdem sie den Motor mit großem Werkzeug bearbeitet hatten, sprang er endlich mit einem lauten Knall ratternd an. „Dann wollen wir mal Günter aus seinen Träumen nach oben holen", lachte Sönke.
Hauke zupfte an der Leine, um Günter das Zeichen zu geben. Gerade in dem Augenblick, als er unten die Glocken hörte, zogen sie ihn an Bord. Als sie den schweren Helm vom Anzug schraubten, fiel eine Qualle auf das Deck. Sönke und Hauke wurden starr vor Schreck. Der Anzug war leer! Wo war Günter? Die Qualle, die aus dem Helm gefallen war, rutschte langsam über die schräge Planke ins Meer.

Tauchermeister ist weg

Günter hatte die Quallen singen gehört und er hatte die Glocken gehört. Dann gehörte er zu ihnen. Sönke und Hauke bekamen Angst. Sie zogen den Anker so schnell sie konnten an Bord, so schnell hatten sie es noch nie zuvor geschafft. Dann nahmen sie Reißaus.
„Nur weg hier", riefen sie beide, „zurück nach Hause!"
In der Aufregung vergaßen sie, sich die Stelle zu merken, wo sie geankert hatten. Deshalb weiß auch heute niemand, wo die Stadt Jumme liegt. Aber weit weg kann es nicht sein.

Buchinfos

  • Titel: Meermärchen - Phantastische Geschichten aus dem Reich des Wassers
  • Autor: Klaus Michelsen
  • Illustrator: Dorit Seiffert
  • ISBN: 9783944873572
  • Genre: Märchenbuch
  • Umfang: 196 Seiten
  • Erscheinungsdatum: 8.6.2020
  • Format: 21 x 21 cm, Hardcover
  • Empfohlenes Alter: ab 6 Jahre
  • Preis (Print): 19 Euro
  • Preise E-Book: 2,99 Euro
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