Der Piratenkapitän mit nassen Füßen
Daniel lief am Strand entlang, ganz unten, da wo die Wellen auslaufen.
Dort lagen nämlich immer die interessantesten Dinge.
„Mama, hier liegt ein Eimer!", rief er. „Den will ich mitnehmen für die Muscheln."
„Pass nur auf, dass du keine nassen Füße kriegst!", war die Antwort.
Da entdeckte er auch schon hier eine große weiße Herzmuschel und da eine schwarze Miesmuschel. Er sammelte sie beide auf und legte sie in seinen Eimer. Ein Brett war von den Wellen angespült worden und dort lag eine alte Bürste. Gerade als er sie aufsammeln wollte, spülte eine Welle über seine Füße. Nun war es passiert ein Platsch und seine Füße waren nass.
„Du bist doch ein Tollpatsch", lachte Mama, „nun müssen wir aber schnell nach Hause, damit du dich nicht erkältest."
Zuhause rubbelte sie Daniels Füße warm und er zog sich trockene Strümpfe an.
Am Donnerstag letzter Woche hatte der Wind das Wasser ganz weit hinausgetrieben. Der Strand war viel breiter als sonst. Man konnte dort gehen, wo sonst das Wasser stand. Das durfte Daniel sich nicht entgehen lassen.
Und richtig, er entdeckte Sachen, die sonst vom Wasser bedeckt waren: eine Holzkiste, auf der Buchstaben zu erkennen waren, Büschel von Seegras und Tang, Steine, die von Seepocken bewachsen waren und ein Stück von einem Fischernetz. Auf einem Stein lag ein richtiger Seestern und ein Krebs rannte vor Daniel davon.
Am liebsten hätte er alles mit nach Hause genommen. Er konnte gar nicht genug kriegen von der Sucherei. Da, auf einmal sah er im Wasser
etwas blinken. Was war das? Da, jetzt wieder. In dem Streifen, der von den Wellen umspielt wurde, funkelte ein Ding, das er nicht erkennen konnte. Wenn er näher ging, kam gleich eine Welle und er musste schnell zurück.
Einmal, zweimal, dreimal versuchte er den Gegenstand zu greifen, schaffte es aber nicht, bevor das Wasser kam. Beim vierten Versuch gelang es, allerdings schwappte die nächste Welle auch schon über seine Schuhe. Nun hatte er beides: wieder mal nasse Füße und das blinkende Etwas. Es war eine Glocke, so groß wie eine Konservendose.
Wo mochte die wohl herkommen? Vielleicht war sie von einem Segelboot ins Wasser gefallen.
„Was sind schon nasse Füße gegen so einen Schatz", dachte er und rannte schnell nach Hause.
Mama trocknete ihm, wie schon so oft, die Füße ab und nannte ihn wieder „Mein kleiner Tollpatsch".
Das machte aber nichts, denn er hatte ja den Schatz geborgen. Danach trocknete sie die Glocke ab.
„Hier steht: Lotte", sagte Mama, „so heißt wohl das Schiff, von dem sie stammt."
Sie gab Daniel einen Lappen und dann putzte er die Glocke. Dabei sang er mit heller Stimme:
„War einst ein kleines Segelschiffchen,
war einst ein kleines Segelschiffchen,
das war noch nie, nie, nie,
noch nie zur See, ohe-ohe!"
Er stellte sich vor, dass er mit der Lotte segeln würde. Während er sang wurde seine Stimme immer tiefer und tiefer und dabei lauter und lauter. Es klang schon wie ein echter Seemannsgesang:
„Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde raues Gesicht!"
Er sah sich auf einem großen Segelschiff mitten im Ozean. Das Steuerrad
hatte er fest in der Hand. Dann donnerte die Stimme eines Piratenkapitäns
über das Deck: „Und das Schiff hat acht Segel und hat fünfzig Kanonen an Bord."
Daniel war jetzt ganz allein auf hoher See, das Schiff schwankte von einer Seite zur anderen. Er musste sich festhalten, damit er nicht vom Deck rutschte. Der Sturm blies von der Seite in die vielen großen
Segel über ihm. Hohe Wellen spülten über das Deck der Lotte, so dass er wieder einmal nasse Füße bekam. Tapfer steuerte er seinen Kurs.
Plötzlich öffnete sich die Kajütentür und Jenny, die Seeräuberbraut, trat heraus. Ein bisschen, aber nur ein klitzekleines bisschen, hatte sie Ähnlichkeit mit seiner Mama.
„Käpt'n, das Abendessen ist fertig", sagte sie. Da ließ der Sturm nach, der Ozean wurde wieder zum Teppich und das große Segelschiff verschwand.
Aus dem Piratenkapitän wurde wieder der kleine Daniel. Die Glocke in seiner Hand aber funkelte inzwischen, als wäre sie aus Gold. Er hängte er sie an einen Haken, ganz dicht neben seinem Bett.
Als er abends schlafen ging strich er noch einmal mit allen Fingern über seinen Schatz. Dann legte er sich ins Bett und kuschelte sich unter die Decke. Er hörte einen einzigen zarten Glockenschlag, dann schlief er ein. Im Traum war er wieder der Piratenkapitän und erlebte wilde Abenteuer in der Karibik.
Am folgenden Morgen wurde er ganz sanft von leisen Glockenschlägen
geweckt: Bimbim, bimbim, bimbim. Er öffnete die Augen und sah niemanden. Seine Mama, die ihn doch sonst immer weckte, war noch nicht bei ihm. An der Wand hing seine funkelnde Glocke. Hatte die Glocke etwa von ganz allein geschlagen? Oder hatte er das nur geträumt?