Der Leuchtturmwärter und der Musiker
Es geschah an einem ungemütlichen Tag im Herbst. Ein kleiner Schwarm Marienkäfer machte sich auf Futtersuche. Leider blies der Wind den Schwarm auf das Meer hinaus direkt zu einem Leuchtturm. Dort landeten die kleinen Krabbler auf dem Dach. Damit begann ein großes Abenteuer, von dem die Marienkäfer gar nichts merken sollten.
Direkt unter dem Dach, dort, wo die große Lampe des Leuchtturms steht, saß der Leuchtturmwärter. Er spielte auf seiner Geige, um sich die Zeit zu vertreiben. Früher hatte er hier viel zu tun gehabt. In jeder Nacht musste er dafür sorgen, dass die Schiffe durch sein Lichtsignal ihren Kurs halten konnten und sicher an den gefährlichen Felsen im Wasser vorbeifuhren. Immer wieder: Lampe an, Lampe aus, warten,
Lampe an, Lampe aus. Das wiederholte er unermüdlich, bis am Morgen die Sonne aufging. Seit ein paar Jahren nun funktionierte alles automatisch; alles wurde elektrisch gesteuert. Der Wärter hatte nichts mehr zu tun, als achtzugeben, dass alles richtig funktionierte. Das war oft langweilig. Von einem Landurlaub hatte er sich deshalb die Geige seines Großvaters mitgebracht und dazu ein Lehrbuch „Geigespielen
im Selbstunterricht". Nun übte er jeden Tag und machte gute Fortschritte.
An dem Tag, als die Marienkäfer auf dem Dach landeten, probte er eine schwierige Stelle eines neuen Liedes.
„Di - didi - dide - lide - dide - litt".
„Tack, tack, tack!", hörte er ein Klopfen von oben.
Ein Vogel war auf dem Dach gelandet und pickte hungrig nach den Marienkäfern. Das konnte der Leuchtturmwärter aber nicht wissen.
„Ruhe!", rief er ärgerlich.
„Tack, tack, tack!", klopfte es erneut.
Wer wagt es wohl, seine Musikstunde zu stören? Zornig stieß er mit dem Geigenbogen gegen das Dach.
„Ruhe, da oben!"
Das hätte er besser nicht getan, denn sein Ärger gab ihm Kraft und mit dem Stoß löste er einen Dachziegel. Laut polternd fiel er aus großer
Höhe auf den Boden.
„Oh!", rief er erschrocken und gleich noch einmal: „Oh, oh!", denn wenn der Wind erst einmal eine Lücke findet, dann fährt er hinein und vergrößert sie sogleich. Im Nu fehlten fünf Dachziegel.
„Oh, oh, oh, oh, oh!", zählte der Leuchtturmwärter.
Das Wetter wurde schlechter. Es regnete ins Loch hinein. Das Wasser
sammelte sich und lief die Treppe hinunter. Es regnete mehr und mehr und das Rinnsal auf der Treppe wurde zum Bach. Schließlich goss es in Strömen und auf der Treppe plätscherte ein munterer Wasserfall.
Ein Leuchtturm hat keinen Abfluss, deswegen lief der Turm langsam voll.
Der Leuchtturmwärter sah das Wasser steigen. Er überlegte und grübelte,
was zu tun sei, doch ihm fiel nichts ein. Als der Regen endlich vorüber war, stand ihm das Wasser bereits bis zu den Knöcheln.
Leider hatte das Wasser einen elektrischen Kurzschluss verursacht, so dass die Lampe außer Betrieb war. Er grübelte und überlegte erneut, was zu machen sei, bis er davon müde wurde und am Tisch einschlief.
Ein paar Seemeilen entfernt fuhr das Kreuzfahrschiff Santa Monika.
Als der Wind sich legte und der Regen aufhörte, gingen die Passagiere
an Deck, um die laue Abendstimmung zu genießen. Die Bordkapelle
spielte einen Tango „Wenn die rote Sonne im Meer versinkt". Die Sonne sank wirklich, es wurde langsam dunkel. Der Steuermann suchte den Lichtkegel des Leuchtturms und fand ihn nicht.
Ein Leuchtturm ist nie außer Betrieb, deshalb kam ihm dieser Gedanke gar nicht.
Er dachte: „Dann bin ich wohl verkehrt hier und muss das Schiff weiter
nach Osten steuern."
Das hätte er besser nicht getan.
Ein Knall wie eine Explosion und ein gewaltiges Zittern erschütterten
das Schiff, als es auf den Felsen lief. Die Schiffsmaschine war so stark, dass sie die Santa Monika weit auf den Felsen schob. Der Bug ragte hoch in die Luft und das Heck tauchte ins Wasser. Alle Passagiere
schrien auf vor Schreck.
Jeder hielt sich an irgendetwas fest, was zu greifen war. Nur einer fand keinen Halt, das war der Kontrabassist der Bordkapelle. Mitsamt
seinem Instrument rutschte er von Bord. Er klammerte sich an seinen Bass und die Wellen trieben ihn vom Schiff weg.
Frühmorgens wachte der Leuchtturmwärter auf. Er blickte rundherum
auf das Meer und traute seinen Augen nicht. Ein Kontrabass schwamm direkt auf die Leuchtturminsel zu. Auf dem Rieseninstrument
saß ein Mensch. Er sah ihn an Land gehen.
„Gerettet", dachte der Musiker und stellte den Bass am Leuchtturm ab.
„Ist hier wohl jemand?", fragte er sich und klopfte an.
Da niemand antwortete, öffnete er die Tür.
Das hätte er besser nicht getan.
Das ganze im Leuchtturm gespeicherte Regenwasser schoss mit einem gewaltigen Strahl durch die nun offene Tür hinaus. Der Musiker
musste sich an der Türklinke festhalten, um nicht mitgerissen zu werden. Ein mächtiger Sturzbach ergoss sich zum Meer und setzte sich dort als eine Riesenwelle fort. Durch die Kraft dieser riesigen Welle wurde das Schiff vom Felsen gehoben. Ohne den Bassisten setzte es seine Fahrt fort.
„Ist da jemand?", rief nun der Leuchtturmwärter von oben herab.
„Ja, ich bin der Kontrabassist der Bordkapelle. Unser Schiff ist auf einen Felsen gelaufen. Mit meinem Instrument konnte ich mich retten.
Mit einer Flöte wäre das nicht möglich gewesen. Kommt da noch mehr Wasser, oder darf ich hinaufkommen?"
„Komm nur, Musiker sind hier willkommen!"
Die beiden begrüßten sich und erzählten sich ihre Geschichten.
„Nun muss ich erst einmal den Leuchtturm wieder flott machen. Hilfst du mir dabei?"
Nachdem die Arbeit getan war und der Turm wieder sauber funkelte, bat der Leuchtturmwärter seinen Gast in die Laternenkammer und spielte ihm auf der Geige ein Lied vor.
„Nicht schlecht, nicht schlecht", sagte der Bassist und wiegte seinen Kopf, „Wer hat dir das denn beigebracht?"
„Ich selbst, ich hab' da ein Buch, weißt du?"
„Geigenspielen kann man nicht wirklich aus Büchern lernen. Ich werde dir Unterricht geben."
So kam es, dass der Leuchtturmwärter Geigenunterricht bei dem Kontrabassisten nahm. Er war ein aufmerksamer Schüler und lernte schnell. Bereits nach wenigen Monaten gab der Wärter seinen langweiligen
Posten auf und zog mit seinem neuen Freund in die Stadt, in der immer die Kreuzfahrschiffe anlegen. Gute Musiker werden immer gesucht und schon bald gingen sie an Bord. Von nun an spielten sie an jedem Abend beim Sonnenuntergang den Tango „Wenn die rote Sonne im Meer versinkt".